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Kolumne ABO

Wandern ist Präsenz

05.04.2024 • Text: Ava Slappnig

Ursprünglich wollte ich in dieser Kolumne vom grossen «Verschwinden» schreiben. Vielleicht darüber, wie schnell die Zeit vergeht, wie sich die Landschaft verändert, wie Lebensräume schwinden, wie ich mich aus der Verantwortung ziehen und selbst aus dem Staub machen kann. Wandern eignet sich perfekt dafür, dachte ich. Verschwinden in Zeitlupe, sozusagen. Und dann dachte ich noch ein bisschen länger darüber nach, und meine Idee machte eine Kehrtwende und bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung. Mir ist da nämlich aufgefallen, dass mein Bedürfnis nach dem eigenen Verschwinden nicht viel mit Wurzeln-kappen, Aufbruch und Abenteuer zu tun hat, sondern viel eher an meinem geringen Selbstwert liegt. Hier muss ich etwas ausholen. Ich habe recht oft das Gefühl, für meine diversen Tätigkeiten nicht qualifiziert genug zu sein: also zum Beispiel insgeheim keine Ahnung vom Schreiben zu haben. Geschweige denn, mich richtig mit dem Wandern auszukennen. Und dementsprechend diesen Kolumnenplatz nur durch ein grosses Missverständnis erhalten zu haben und jetzt halt so zu tun, als ob. Insgeheim warte ich darauf, dass mir die Leser:innen oder die Redaktion beim Hochstapeln auf die Schliche kommen – und ich mich dann ganz klein machen kann oder, noch besser, in Luft auflösen werde. Für diese Form von Minderwertigkeitskomplex gibt es einen Namen: Imposter-Syndrom oder Imposter-Phänomen. Damit bin ich nicht allein, etwa 70 Prozent aller Menschen fühlen das irgendwann mal in ihrem Leben. Diese Gefühle kennen also ziemlich sicher auch die einen oder anderen, die hier mitlesen. Zurück zum Wandern: Entgegen meiner ursprünglichen Annahme hat Verschwinden damit nicht viel zu tun. Es ist unmöglich, beim Wandern keine Spuren zu hinterlassen, egal, wie sanft ich einen Fuss vor den anderen setze, irgendetwas bleibt immer zurück. Zumindest für eine kurze Zeit. Beim Wandern bin ich gezwungen, einen gewissen Raum einzunehmen. Schliesslich pflanze ich meinen Körper mit dem ersten Wanderschritt in die Landschaft, verdränge Luft, zertrete Grashalme, verscheuche Insekten, hinterlasse Hautzellen und CO2. Und weil das unausweichlich ist, kann man dabei auch gleich üben, diese Präsenz zu geniessen. Raum einnehmen kann tatsächlich auch ganz schön viel Spass machen: Ich kann empfehlen, dabei laut zu singen oder zu lachen oder besonders breitbeinig zu gehen. Meinen inneren Imposter konnte ich so zumindest temporär zum Verschwinden bringen.

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